DFG-Projekt

Sinnentwürfe in prekären Lebenslagen der Gegenwart: Eine transnationale Ethnographie geistigen Heilens im ländlichen Raum (Eifel)

Mit dem 2015 abgeschlossenen Projekt wurde versucht, zur Beantwortung der Frage beizutragen, inwiefern Mitglieder einer Dienstleistungs- und Datengesellschaft alternativmedizinische deutungs- sowie handlungsanleitende Modelle im Stile biografisch stimmiger Interpretamente nutzen. Aufgrund forschungspraktischer Erwägungen wurden die empirisch ausgerichteten Nachforschungen auf schamanisch tätige Menschen in der Eifel fokussiert. Mit den Mitteln einer qualitativen Ethnographie erfolgte eine Annäherung an die konkreten Lebenswelten der ausgewählten Forschungspartner/innen.

Fotos: privat

Die Nachforschungen erbrachten, dass der Gegenwartsschamanismus in der Eifel nicht als originär ländliche Erscheinung gesehen werden kann. Die sogenannte „New Age“- und „Esoterik“-Szene hatte Mitte der 1980er Jahre besonders in den bundesdeutschen Großstädten Konjunktur, so auch in Köln, das von der Nordeifel keine 60 Minuten Autofahrt entfernt liegt. Etliche der interviewten Akteure haben in Köln ihre ersten Erfahrungen mit alternativen spirituellen Vorstel-lungen und Handlungsweisen gemacht, diese dort erprobt und dann mit ihren Umzügen in die Eifel transferiert. Auffällig bei allen Forschungskontakten war, dass sich die genutzten Wissensbestände, obgleich sie durch die Akteure selbst oftmals als oral tradiert ausgewiesen wurden, stark aus schriftlichen Quellen speisen. Insofern lässt sich resümieren, dass es sich beim Gegenwartsscha-manismus eigentlich eher um ein über Bücher vermitteltes Phänomen handelt. Für die Akzeptanz der entsprechenden Angebote scheinen persönliche Empfehlungen und Erfahrungen aus dem familiären und freundschaftlichen Umfeld eine große Rolle zu spielen. Auch hier greift ein Stück weit das Muster des Vertrauens auf Vorbilder, wie es in der Kulturanthropologie/Volkskunde bereits bedacht wurde, um persönliche Entscheidungsfindungen zu erklären und zu legitimieren. Die theoretische Anschlussfähigkeit von schamanischem Handeln an psychotherapeutische Settings und Konzepte wurde zwar bereits in der jüngeren Forschungsliteratur angesprochen, allerdings überraschte es, diese Konvergenz im Feld in Form eines laienpsychotherapeutisch grundierten Phänomens in einer auf-fallenden Dichte beobachten zu können. Zieht man unter Vorbehalt aktuelle statistische Befunde heran, so erscheint es wahrscheinlich, dass die rezent blühende Heilerszene in der Eifel etwas mit der eklatanten Unterversorgung dieses Gebietes mit ambulanter Psychotherapie zu tun haben muss und dass das untersuchte Phänomen quasi als eine Art Hilfe zur Selbsthilfe gelesen werden kann. Die Ethnographie hat darüber hinaus gezeigt, dass es hinsichtlich der Klientenmotive zu kurz greifen würde, allein mit prekären Lebenslagen als Antriebsfeder für die Wahl eines schamanischen oder alternativmedizinischen Angebots zu argumentieren. Neben Menschen in existenziellen Nöten gibt es ebenso welche, die aufgrund salutogenetischer Überlegungen an Wochenendveranstaltungen wie etwa Schwitzhüttenzeremonien teilnehmen. Es scheint naheliegend, den Ge-genwartsschamanismus in der Eifel in einem solchen Betrachtungskontext als „Entschleunigungsoase“ (nach Hartmut Rosa) und den bewusst begangenen Rückzug als Reaktion auf gegenwärtige gesellschaftliche Zustände der Beschleunigung zu deuten.

Erfreulich war das regionale und überregionale Interesse seitens der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit an dem Projekt, das sich in einer überraschenden Presseresonanz niederschlug. Wie eine im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt veranstaltete Tagung zeigte, sind die hier verfolgten Fragestellungen nicht allein für kulturanthropologisch-volkskundliche Belange relevant, sondern lassen sich auch gut in den gegenwärtigen interdisziplinären Diskurs zum weiten Feld heterodoxer Heilphänomene einbetten. Ein für das Sommersemester 2015 entwickelte Lehrangebot auf der Grundlage der Projektarbeit bot eine zusätzliche Nutzungsmöglichkeit der gewonnenen Erkenntnisse über die eigentliche Projektlaufzeit hinaus.

Liste der wichtigsten Publikationen aus diesem Projekt

Uhlig, Mirko & Simon, Michael (2012). Sinnentwürfe in prekären Lebenslagen der Gegenwart: Eine transnationale Ethnographie geistigen Heilens im ländlichen Raum (Eifel) – ein Projektbericht. In: Volkskunde in Rheinland-Pfalz 27, S. 121–128.

Uhlig, Mirko (2014). Die Reise ins Knie. Zum ethnographischen Umgang mit Grenzphänomenen im Kontext heterodoxer Heilweisen. In: Arantes, Lydia Maria & Rieger, Elisa (Hg.): Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen, S. 143–158, Bielefeld: Transcript.

Simon, Michael (2015). Schamanen in der Eifel – eine literaturanthropologische Spuren-suche. In: Uhlig, Mirko; ders. & Lefeldt, Johanne (Hg.). Sinnentwürfe in prekären Lebenslagen. Interdisziplinäre Blicke auf heterodoxe Phänomene des Heilens und ihre Funktionen im Alltag (Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde, Bd. 9), S. 53–65, Münster u. a.: Waxmann.

Uhlig, Mirko (2015). Trübe, dunkle Monde? – Feldnotizen und Überlegungen zu gegenwartsschamanischen „Ratgebern“ in der Eifel. In: ders.; Simon, Michael & Lefeldt, Johanne (Hg.). Sinnentwürfe in prekären Lebenslagen. Interdisziplinäre Blicke auf heterodoxe Phänomene des Heilens und ihre Funktionen im Alltag (Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde, Bd. 9), S. 67–87, Münster u a.: Waxmann.

Uhlig, Mirko; Simon, Michael & Lefeldt, Johanne (Hg.) (2015). Sinnentwürfe in prekären Lebenslagen. Interdisziplinäre Blicke auf heterodoxe Phänomene des Heilens und ihre Funktionen im Alltag (Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde, Bd. 9), Münster u. a.: Waxmann.

Des Weiteren wurden zwei Tagungsberichte verfasst und sowohl in der Zeitschrift Curare (2013, S. 316–320) als auch in der Zeitschrift für Volkskunde (2014, S. 301–305) abgedruckt.