Mainzer Kolloquium in Europäischer Ethnologie

Fachspezifische Spezialisierung/Wintersemester 2024/25
Ort: Rote Infobox / Kreuzung Johann-Joachim-Becher-Weg und Johannes-v.-Müller-Weg
Zeit: mittwochs, 12:00–14:00

Unser fachinternes Kolloquium dient dem inhaltlichen Austausch der Mitarbeitenden der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie und Gastvortragende aus anderen Universitäten im In- und Ausland und ist also Treffpunkt intellektueller Diskurse. An ausgewählten Terminen im Semester werden aktuelle oder geplante Forschungsvorhaben, Veröffentlichungen und Projekte vorgestellt und diskutiert. Studierende sind herzlich eingeladen, an der Veranstaltung teilzunehmen, um einen Einblick in die Arbeit der Mitarbeitenden zu erhalten und sich am aktuellen Forschungsdiskurs zu beteiligen. Es ist nach Rücksprache mit dem Fach bzw. Studienmanagement auch möglich, diese Veranstaltung als Ersatz für ausgewählte Lehrveranstaltungen zu besuchen.

Aktuelle Forschungen

6.11.24 Karin Bürkert (Tübingen): Der Atomausstieg in Nachbarschaft zum Kernkraftwerk. Ergebnisse eines Lehrforschungsprojekts

Wie lebt(e) es sich in der Nachbarschaft zu einem Kernkraftwerk? Für die Menschen im Umkreis des Gemeinschaftskernkraftwerk Neckar (GKN), zehn Kilometer südlich von Heilbronn gelegen, gehörte das Atomkraftwerk zum Alltag. Am 15. April 2023 wurde das Kraftwerk nach fast fünfzig Jahren abgeschaltet. Wie blicken die Menschen auf die bevorstehenden Veränderungen nach dem Atomausstieg und dem Rückbau des Kraftwerks? Wie spiegelt sich die kontroverse Debatte um das Für und Wider der Atomkraft in den Gemeinden vor Ort? Und was bedeutet die Abschaltung für diejenigen, die dort arbeiten? Erstmals wurden diese Fragen von sieben Studierenden der Empirischen Kulturwissenschaft der Universität Tübingen unter der Leitung von Karin Bürkert erforscht. Sie waren in den Gemeinden Neckarwestheim und Gemmrigheim unterwegs, haben Einwohner*innen befragt und in Archiven gestöbert.

 

13.11.24 Barbara Wittmann (Bamberg): Von der Frauengesundheitsbewegung zur Gendermedizin – kulturwissenschaftliche Perspektiven auf einen unabgeschlossenen Prozess

Die noch junge Disziplin der Gendermedizin rückt seit einigen Jahren vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit. Während die geschlechtersensible Medizin in Forschung und Ausbildung immer noch um Anerkennung ringt, tragen populärwissenschaftliche Ratgeber, Rundfunk- und TV-Beiträge, vor allem aber Social Media auf gesellschaftlicher Ebene zu einer erhöhten Sensibilität für das Thema bei. Fragen danach, ob und wie Geschlechter unterschiedlich krank werden, gehen auf Forderungen der Frauengesundheitsbewegung seit den 1970er Jahren zurück, in deren Zuge eigene Aufklärungskampagnen gestartet und sogenannte Frauengesundheitszentren als Austauschräume etabliert wurden. Im Vortrag wird der aktuelle Stand von auf Oral History-Interviews und Archivrecherchen basierenden Forschungen zur Entwicklung gendermedizinischer Perspektiven im deutschsprachigen Raum aus diesen historischen Ursprüngen heraus thematisiert.

 

4.12.24 Christine Bischoff (Kiel): Religiöse Mobilität(en). Verhältnisbestimmungen von Raum, Religion und Bewegung am Beispiel von Konversionsprozessen
Im wissenschaftlichen Diskurs werden erst allmählich Ansätze aus der kulturwissenschaftlichen Religiositäts- und Mobilitätsforschung zusammengeführt. Auf diese Weise sollen Fragen danach, ob sich Religion grundsätzlich eher hemmend auf Mobilitätsprozesse auswirkt oder im Gegenteil das Religiöse entscheidendes Movens für raumbezogene Mobilität ist, beantwortet werden. Bei religiösen Konversionsprozessen wird der Zusammenhang von Raum, Religion und Bewegung besonders nachvollziehbar, nicht zuletzt deshalb, weil die Protagonist:innen des Feldes häufig selbst die Beziehungen zwischen eigener Religiosität beziehungsweise Spiritualität und erfahrener Mobilität oder Migration herstellen. Naheliegend, indem etwa auf eine Migrationsgeschichte verwiesen wird, oder weiter gefasst, indem der Migrationsbegriff in einem erweiterten Sinne verstanden und dabei etwa auf Formen der Binnenmigration aufmerksam gemacht wird sowie Prozesse der Bewegung nicht ausschließlich als physisch-räumlich, sondern auch als sozial sowie mental begriffen werden. Auf das Verhältnis dieser sich daraus ergebenden unterschiedlichen Formen der Mobilität und religiösen Identitätsbildung wird im Vortrag näher eingegangen.

 

11.12.24 Victoria Hegner (Jena): Politiken der Gerechtigkeit an Universitäten und das Potential ethnografischer Forschung
In meinem gegenwärtigen Forschungsprojekt gehe ich ethnografisch der Frage nach, wie die zentrale Forderung nach Gerechtigkeit – nach Gleichbehandlung, Inklusion und Diversität – an Universitäten verhandelt und durchgesetzt wird. Mein Hauptaugenmerk liegt auf Berufungsverfahren – dort, wo in einem oft langem und komplizierten Prozess Professor*innen aus- bzw. erwählt werden. Ich verstehe solche Verfahren als Orte, an denen nicht nur zentral über die Zukunft eines Faches entschieden wird, sondern, an denen sich der tiefgreifende Wandel, den Universitäten derzeit durchleben, paradigmatisch wiedergibt: ein Wandel, der von einem verstärkten (ökonomischen) Wettbewerb und Effizienzgedanken bei einer gleichzeitig intensivierten moralischen Erwartung von Chancengleichheit getragen ist. Wenn ich hier erste Ergebnisse präsentiere, so weniger im Modus, Beispiele aus der Feldarbeit zu liefern, die ich sodann analytisch versuche zu durchdringen. Mein Fokus liegt vielmehr auf der forschenden Zugangsweise zum universitärem – zum eigenen – ‚Feld‘. Der Art des Zugangs und der Zugänglichkeit legen bereits vieles über die gepflegten Routinen und Selbstverständlichen im ,Feld‘ offen. Wie einzelne Universitäten dem Projekt und der ethnografischen Methode begegneten, wie auf das Chancengleichheits- und Diversitätsthema reagiert wurde und welche strukturellen Mechanismen der „Abwehr“ wie auch „Einbindung“ einsetzten und welche Akteur*innen dabei ins Spiel kamen, beinhaltet entscheidende Erkenntnissen darüber, wie Fragen des Gendermainstreaming und der Forderung nach „Vielfalt“ den universitären Alltag prägen und hier zwischen struktureller Wirkkraft und individueller Handlungsmöglichkeit verhandelt werden. Anhand dichter Beschreibungen soll dies offengelegt und dabei die Potentiale und Grenzen des ethnografischen Zugangs ausgelotet werden.

 

18.12.24 Martina Klausner (Frankfurt a. M.): Datenpolitiken in der Mobilitätswende: Einblicke in ethnografische Forschung mit und über Daten
Welche Rolle spielen Daten im Politik-Machen? Wie lässt sich das Zusammenspiel von Daten und Politik eigentlich ethnografisch untersuchen? Diesen Fragen geht der Vortrag anhand eines Forschungsprojektes zu Daten in der Mobilitätswende nach und lädt zu einer "datenethnografischen Spurensuche" ein. Neben einigen grundlegenden konzeptionellen und methodologischen Überlegungen zur Untersuchung von Datenpolitiken, stellt der Vortrag Beispiele vor, wie im Rahmen der Mobilitätswende in Frankfurt Daten von ganz unterschiedlichen Akteuren produziert und politisch mobilisiert werden, um Veränderungen auf Frankfurts Straßen voranzutreiben.

 

15.1.25 Timo Heimerdinger (Freiburg): Ausmisten – populäre Praxis und epistemische Perspektive
Dry January oder Veganuary - nach üppigem Genuss zu Weihnachten und Jahreswechsel steht der Januar für viele Menschen im Zeichen von Reduktion und Konsumzurückhaltung. Der für mehrere Wochen geplante Verzicht auf Alkohol und/oder Fleisch hat in den letzten Jahren als Trend stetig zugenommen. Im Zusammenspiel mit den ebenso klassischen wie oft belächelten Neujahrsvorsätzen geht dieser Impuls für viele jedoch noch weiter: Sie begreifen den Januar als „Aufräummonat“, in dem sie sich von Ballast und Überflüssigem trennen wollen. Doch leichter gesagt als getan: Die Reduktion des materiellen Besitzes ist eine Aufgabe, die nicht immer leicht fällt. Nicht umsonst haben Aufräum-Techniken wie die KonMari- oder Peter Walsh-Methode sowohl Popularität erlangt als auch ein eigenes Genre der professionellen Lebenshilfe und Beratungstätigkeit hervorgebracht. Unter dem Begriff „Ausmisten“ zeigen sich darin ebenso anspruchsvolle wie alltägliche Praktiken der Neuorganisation des Alltags. In meinem Vortrag werde ich diese Praktiken vorstellen, sie als Spielarten menschlichen Reduktionshandelns analytisch und begrifflich in einen weiteren thematischen Zusammenhang einordnen und auf diesem Weg Bausteine einer Kulturanalyse der Unterlassung entwickeln.

 

22.1.25 Juliane Tomann (Regensburg): Nuclear Heritage in the Making. Deutungen des DDR-Uranerzbergbaus in der „Neuen Landschaft“ Ronneburg

Auf der Suche nach Uranerz im aufkeimenden Kalten Krieg entdeckten sowjetische Geologen in Ronneburg, einem kleinen Ort in Thüringen, umfangreiche Lagerstätten. Die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut führte im Tagebauverfahren großflächige Förderungen durch – mit enormen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Direkt an der Stadtgrenze entstand ein riesiger Krater, der als Sperrgebiet ausgewiesen wurde. Die radikale Zerstörung der Landschaft hinterließ nach dem Ende des Uranerzabbaus 1990 kontaminierte Flächen, die seither saniert werden. Heute befindet sich auf dem ehemaligen Tagebaugebiet die „Neue Landschaft Ronneburg“, ein Freizeitareal und zugleich ein Ort, an dem mit der toxischen Vergangenheit gerungen wird.
 
Dieser Vortrag untersucht, wie im Sanierungsprozess Bedeutungen der Vergangenheit geformt werden und welche Rolle menschliche und nicht-menschliche Akteure dabei spielen. Mit dem Konzept des „nuclear heritage“ frage ich, wie kulturelle Deutungen der radioaktiv kontaminierten Landschaft entstehen und welche Herausforderungen diese für die Erinnerungs- und Umweltgeschichte mit sich bringen.
 

29.1.25 Markus Tauschek (Freiburg): Deutungshoheiten – zur Politisierung von Kultur

Es ist kein neuer Befund, dass Kultur (ob eng gefasst oder weit verstanden) Gegenstand der Politisierung, der Kontroverse und der politischen Instrumentalisierung ist. Gleichwohl geht der Vortrag davon aus, dass gegenwärtig eine Intensivierung der Politisierung von Kultur zu beobachten ist, die durch Debatten in den sozialen Medien geradezu befeuert wird. Hier entfalten sich dann mitunter enorm skandalisierende und mobilisierende Diskussionen etwa um die „richtige“ Form oder die „korrekte“ Ausübung von Kultur. Die einen fordern Transformation und Veränderung, indem sie etwa Ausschnitte von Kultur problematisieren; die anderen beharren auf bestimmten Ausdrucksformen. Im Widerstreit um Deutungshoheiten finden sich neue Formen der (Re-)Essenzialisierung von Kultur, formieren sich (neue?) Containermodelle von Kultur, von denen sich gerade die Empirische Kulturwissenschaft längst verabschiedet hat. Der Vortrag diskutiert verschiedene Formen der Politisierung von Kultur, problematisiert die daraus resultierenden Effekte und fragt dabei auch nach der Rolle (kultur)wissenschaftlichen Wissens.