Audiovisionen des Alltags – Quellenwert und mediale Weiternutzung

Tagung der dgv-Kommission für Film und audiovisuelle Anthropologie

Die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben zu einer Verdichtung auditiver und audiovisueller Aufzeichnungen über jenen Untersuchungsgegenstand geführt, der im Mittelpunkt kulturanthropologischer, ethnologischer resp. volkskundlicher Forschungen steht: der Alltag. War der Kreis derjenigen, die sich früher überhaupt eine technische Ausrüstung für solche Vorhaben leisten konnten, äußerst begrenzt, kann heutzutage praktisch jeder bzw. jede mit dem Smartphone Alltagsszenen dokumentieren und medial aufbereiten. Die ständige Verfügbarkeit der entsprechenden Technologien in der Gegenwart hat darüber hinaus dazu geführt, dass es kaum noch unbelauschte oder unbeobachtete Momente gibt. Jederzeit und allerorten wird medial aufgezeichnet, und zwar längst nicht mehr nur an den besonderen Tagen im Jahr, sondern sozusagen rund um die Uhr, und das nicht nur im gegenseitigen Einvernehmen zwischen AkteurInnen und Aufnehmenden, sondern vielerorts auch „heimlich“. Kanäle wie YouTube tragen dazu bei, dass viele dieser Aufnahmen eine rasche Verbreitung finden, auch wenn ein Großteil von ihnen letztlich nicht den öffentlichen Raum erreicht. Sind private Aufnahmen aber zugänglich, stellen solche Alltagsaudiovisionen für kulturwissenschaftlich arbeitende Disziplinen einen reichen, wenn auch problematischen Quellenbestand dar. Da über den Entstehungskontext dieses Materials in der Regel nichts bekannt ist, erscheint eine quellenkritische Auseinandersetzung in besonderer Weise notwendig, um sich für die dem Material inhärenten Perspektiven und Bedeutungseinschreibungen kritisch zu sensibilisieren. Das gilt auch für solche Fälle, in denen es als „(Found) Footage“ in (professionelle) audiovisuelle Repräsentationen wie Dokumentarfilme bzw. -features einfließt, was gegenwärtig immer häufiger zu beobachten ist. Zwar weist die Verwendung von Fremdmaterial in bestimmten Genres eine lange Geschichte auf (etwa in historischen Dokumentationen, aber auch in Experimental- und Kunstfilmen), dennoch kann aktuell von einem auffälligen Anstieg und einer deutlichen Diffusion dieser Medienpraxis ausgegangen werden, die selbst produziertes Material mit Bildern aus anderen Kontexten kombiniert und durch diese Zusammenführung neue Bedeutungen generiert.  Auf der Tagung soll es darum gehen, Audiovisionen des Alltags in den Blick zu nehmen, und zwar sowohl als Primärmaterial als auch in sekundären Verwendungsformen – und dies in gegenwärtiger wie historischer Perspektive. Wie lässt sich dieses Material für wissenschaftliche Fragestellungen erschließen? Wie kann sein Quellenwert eingeschätzt werden? Welche ethischen Probleme sind mit seiner Verwendung verbunden? Welche Gefahren bestehen bei der Verwendung solcher Materialien in Filmen und anderen audiovisuellen Repräsentationen, (historische) Fehldeutungen aufzuwerfen und/oder zu reproduzieren? Welche unterschiedlichen medialen (filmischen wie auditiven) Strategien sind evident und wie können sie etwa hinsichtlich ihrer quellenkritischen, -reflexiven sowie dekonstruktiven Zugänge unterschieden werden? Die Tagung möchte aus dem Umkreis der hier skizzierten Themen möglichst unterschiedliche Beispiele versammeln, um die mit der Klagenfurter Tagung 2015 angeregten Diskussionen über „Praktiken von Amateuren im Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung“ weiterzuführen.