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Der Mainzer Master-Studiengang „Kulturanthropologie/Volkskunde“ sieht im ersten bzw. zweiten Semester ein sogenanntes „Forschendes Lernen“-Projekt vor. Hier geht es über zwei Semester darum, historische oder gegenwartsbezogene Problemstellungen unter Anwendung verschiedener Methoden zu verfolgen. Die Studierenden werden dabei in Gruppenarbeit an wissenschaftliche Vorhaben herangeführt, die auch von praktischer Relevanz sind. Im engen Arbeits- und Forschungsverbund zwischen Lehrenden und Studierenden soll es darum gehen, Fragestellungen aus dem Bereich der Kulturanalyse zu identifizieren und zu bearbeiten.
Das in den Jahren 2013-2014 stattfindende Projekt strebt Einblicke in die biografische Rückschau von Flüchtlingen und Emigranten an, die Erfahrungen mit dem „Eisernen Vorhang“ gemacht haben. Aber auch andere Personen, die mit dieser Grenze in Berührung kamen und kommen, stehen im Fokus der jungen Forschenden. Als Kooperationspartner des durch die Europäische Union finanzierten Projekts „Iron Curtain Stories“ der Prager NGO „Post Bellum“ beschäftigen sich die Mainzer Kulturanthropologen mit den an (West-) Deutschland grenzenden Abschnitten des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Die Ergebnisse in Form biografischer Interviews werden auf einer Website und in einer Mobilfunk-App mit geographischer Verortung veröffentlicht. Durch die Interviews mit Zeitzeugen werden dabei Erinnerungsräume erschlossen, die durch die Handy-App wiederum einen konkreten Raumbezug erhalten. Reisende, die beispielsweise entlang dem europäischen Radwanderweg „Iron Curtain Trail“ unterwegs sind, können so mithilfe der App Informationen und Zeitzeugenberichte direkt vor Ort abrufen.
Forschen auf internationaler Ebene
Unter der Leitung von Juniorprof. Dr. Sarah Scholl-Schneider hat sich die Mainzer Kulturanthroplogie/Volkskunde für dieses Vorhaben am EU-Antrag der tschechischen Organisation „Post Bellum“ erfolgreich beteiligt. Auch weitere europäische Partner sind dabei, so etwa aus Kroatien, Rumänien und anderen Ländern des östlichen Europas. Das Projekt „Iron Curtain Stories“ ist Teil des Großprojekts „Memory of Nations“ (www.memoryofnations.cz), das derzeit insgesamt 25 europäische Projekte umfasst. Dabei werden die individuellen Erfahrungen auf einer Website zugänglich gemacht und stehen jedem/r Interessiertem/n zur Verfügung. Die neueste Entwicklung ist die Zugänglichmachung dieser biografischen Forschung über die Handy-App „Memory of Nations“ (http://www.mistapametinaroda.cz/).
Medialisierung von Lebensgeschichten
Im Rahmen der Vorbereitungen auf die Datenerhebungen diskutieren die Studierenden in der Übung im SoSe 2013 alle Fragen rund um das qualitative Interview. Das Hauptseminar „Die biographische Erfahrung des geteilten Europas“ fokussiert die zunehmende Medialisierung biografischer Erfahrungen, wie sie nicht zuletzt auch im Rahmen des EU-Projektes stattfindet. Dies führt die Mainzer über die Zusammenarbeit mit den internationalen Partnern hinaus zu spezifischen kulturanthropologischen Fragestellungen: Wie wird die biografische Erfahrung des geteilten Europas medial, etwa im Film, im Internet, durch Museen und Gedenkstätten rund um die Grenze vermittelt? Und wie unterscheiden sich die erinnerungskulturellen Aktivitäten auf den unterschiedlichen Seiten der Grenze(n) sowie seitens der Europäischen Union? Um diesen Fragen adäquat nachgehen zu können, wird neben der Arbeit mit Sekundärliteratur und Quellen im Oktober 2013 eine Exkursion ins bayerisch-tschechische Grenzgebiet stattfinden. Im WiSe 2013/2014 finden weitere Lehrveranstaltungen zum Thema statt.
(Text: Miriam Braun, Ljubov Gonchar, Michelle Gundermann, Kathrin Neurohr, Jessica Retzlaff)