Urbane Nischen. Ethnographische Erkundungen in den
Hinterhöfen des Wiesbadener Westends
„Der Hinterhof, beziehungsweise die auf ihn hinausgehenden Fenster: sie bildeten die Rück-, Kehr- und Schattenseite des bürgerlichen Mietshauses. Was ihr an Distinguiertheit fehlte, machte sie durch die Intensität ihres spezifischen Lebens mehr als wett, auch wenn und gerade weil es sich gelegentlich derb oder sogar vulgär präsentierte. Alltagswelt, hier war sie gegenwärtig; Alltagsleben, hier vollzog es sich sichtbar, schmeckbar und hörbar.“ (Georg Schroubek)
"Urbane Nischen" lautet das Motto des großen Projektes 2020/21. Das Projekt nimmt das Wiesbadener Westend aus der Perspektive seiner Hinterhöfe in den Blick und fragt nach der Geschichte, Bedeutung und Funktion von innerstädtischem Lebensraum in einem vielfältigen Stadtteil.
Geprägt durch die Architektur der Jahrhundertwende sind die verschachtelten Hinterhöfe und -häuser markante Merkmale des Stadtteilgefüges im Wiesbadener Westend. Zugleich sind sie ein Symbol für die Dichte, die Vielfalt und das Nebeneinander von Lebenswelten im Viertel. Die Hinterhöfe stehen für die leicht übersehbaren Zwischenräume, in denen der Alltag stattfindet, für die privaten, abseitigen, auch problematischen Facetten des Stadtteils. Mit dem Hinterhof wird der ungeschönte Alltagsort angesprochen, an dem die Diversität des Westends zum Ausdruck kommt.
Das Wiesbadener Westend und seine Hinterhöfe stecken voller Geschichte und Geschichten. Sie erzählen von vergangenen und gegenwärtigen Arbeitskulturen, von Lebensräumen von Kindern im Stadtdschungel, von Geflüchteten, die im Westend eine neue Heimat fanden oder weiterzogen, von Kulturnischen, in denen Wohnprojekte, Veranstaltungsräume, Ateliers und Beratungsstellen eingezogen sind.
Im Sommer 2020 unternahm ein Team von Master-Studenten*innen des Faches Kulturanthropologie/Volkskunde eine Stadtteilerkundung im Westend, um diese Hinterhofgeschichten zu sammeln und aufzuschreiben. Die Ergebnisse werden auf der Projektseite www.hinterhofwestend.de veröffentlicht. Aktuell befindet sich die Seite im Aufbau und verschafft zum gegenwärtigen Zeitpunkt Einblicke in erste Forschungsbefunde. Die fertige Projektseite wird dann ein multimediales Tableau von "Hinterhofgeschichten" zusammenfassen. Die Beiträge umfassen Texte, Hörspiele, Podcasts und Beobachtungsexperimente. Sie erzählen von Orten, Menschen und Institutionen im Stadtteil, die das Viertel prägen und ein wenig verborgen in den Fluchten der Hinterhöfe liegen. Mit der Sammlung von Hinterhofgeschichten will das Projekt der Eigenlogik und den Herausforderungen Stadtteils in Geschichte und Gegenwart nachspüren.
Die einzelnen Beiträge setzen sich zu einem digitalen Parcours durch das Westend zusammen, der sich über eine interaktive Karte navigieren lässt. Der Parcours lädt dazu ein, eigene Streifzüge durch das Westend zu unternehmen und die Erzählungen vor Ort zu erleben.
Das Projekt fand unter den Bedingungen der Corona-Pandemie statt und suchte zugleich einen Umgang mit ihr. Die Pandemie hat die sozialen Fliehkräfte in der Gesellschaft verschärft und die Notwendigkeit kultureller Räume vor Augen geführt, in denen konkrete Begegnungen stattfinden können. Vor diesem Hintergrund versteht sich das Projekt auch als ein Beitrag zur Stadt(teil)kultur, der in seiner Umsetzung auf eine Belebung des öffentlichen Raums abzielt. Mit unserem Parcours wollen wir die Hinterhöfe des Westends als Erinnerungsorte, Begegnungsorte und Möglichkeitsräume in Szene setzen.
Berichterstattung:
Der Hinterhof der Stadt: Studiengruppe erkundet das Westend (Wiesbadener Kurier, 05.01.2021)