Ethnografisches Portrait und kulturhistorische Rekonstruktion eines Brauchs
Das Dokumentarfilm-Projekt verfolgt das Ziel, Form und Funktionen des sogenannten Hansel Fingerhut-Spiels in Forst im Rahmen einer Feldforschung aus kulturanthropologisch-volkskundlicher Perspektive zu beleuchten. Im Zentrum stehen dabei die unterschiedlichen subjektiven Bedeutungsebenen der involvierten Akteure, wodurch ein multiperspektivischer Blick auf das untersuchte Phänomen(-umfeld) und somit eine differenzierte Analyse ermöglicht wird.
Im Vordergrund des Hansel Fingerhut-Spiels steht die theatrale Inszenierung der Auseinandersetzung zwischen Winter und Sommer sowie weiterer Brauchfiguren. Alle Rollen werden von sechs jungen Männern verkörpert. Was Forst für die eingehendere kulturwissenschaftliche Betrachtung prädestiniert, ist der Umstand, dass die dort praktizierte Variante seit dem 9. Dezember 2016 von der Deutschen UNESCO-Kommission in das Bundesweite Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe aufgenommen wurde. Einerseits kann diese Würdigung als instruktiver Indikator für rezente Wertvorstellungen und Normendiskurse interpretiert werden, andererseits könnte sie eine klare Zäsur für die lokale Brauchaushandlung bilden und somit selbst wiederum kulturellen Wandel befördern.
Von unterschiedlicher Seite wurde bereits darauf hingewiesen, dass Bräuche, auch und besonders die von der UNESCO protegierten, in touristische, also kommerzielle Kontexte überführt werden bzw. schon in der Vergangenheit überführt wurden. Dieser Aspekt wird für die empirische Untersuchung von zentraler Bedeutung sein, handelt es sich bei dem Hansel Fingerhut-Spiel doch dezidiert um einen sogenannten Schaubrauch, der nicht allein der Selbstvergewisserung der Brauchakteure dient, sondern zu Teilen gewiss auch als „Spielart der populären Unterhaltungskultur“ (Utz Jeggle) diskutiert werden darf.
Die Ernennung zum Kulturerbe könnte aber auch eine durchaus pikante Situation befördern: Durch die Aufnahme in den offiziellen Kulturerbe-Katalog ist der Brauch nach ganz konkreten Vorstellungen gewissermaßen fixiert worden, was, das zeigt die historische Perspektive, der Funktion und Charakteristik von Bräuchen eigentlich widerspricht. Zumindest dann, wenn sie als Ventile für individuelle wie gesellschaftliche Bedürfnisse verstanden werden. Eine große Brauchvariation wird, so eine erste These, zumindest unter dem UNESCO-Etikett, das ja den ökonomisch wichtigen Tourismus für den staatlich anerkannten Fremdenverkehrsort Forst zu steigern hilft, kaum noch möglich sein.
Es ist des Weiteren denkbar, dass sich am Beispiel des Forster Hansel Fingerhut-Spiels ein soziokulturelles Phänomen in besonders anschaulicher Weise diskutieren lässt. Gemeint ist die verstärkte Hinwendung zum Regionalen bzw. Lokalen, die seit einigen Jahren beobachtet werden kann und die innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften unter dem Begriff der Glokalisierung gefasst wird. Der Rekurs auf Eigenheiten, der mancherorts zur bewussten Zurschaustellung einer lokalen Identität (und deren kommerzieller Vermarktung) führt, speist sich aus teils begründeten, teils aber diffusen Ängsten vor den nivellierenden Kräften der Globalisierung (Stichwort: McDonaldisierung). Inwiefern das Forster Hansel Fingerhut-Spiel als Glokalisierungsprodukt gedeutet werden kann und inwiefern in diesem Zusammenhang sozial exkludierende oder integrierende Kräfte wirken, wird die Empirie zeigen.
Die Projektergebnisse werden einer interessierten Öffentlichkeit über die Publikation „Das Hanselfingerhut-Spiel in Forst. Ethnografisches Portrait und kulturhistorische Rekonstruktion eines Brauchs“ zugänglich gemacht. Das Buch (182 Seiten, zahlreiche Abbildungen), das auch den Dokumentarfilm (48 Minuten) über das Spiel von 2019 enthält, ist 2023 im Waxmann Verlag (Münster/New York) erschienen.