Sinnliche Zugänge zu symbolischen Orten Vertriebener in Deutschland. Von Erinnerungs- zu transnationalen Begegnungsräumen?

Eine trinationale Studienwoche im Januar 2020 zur ethnografischen Erforschung der Bildungsstätten Haus Schlesien und Heiligenhof

Um Studierenden die Kultur und Geschichte der Deutschen und ihrer Nachbarn im östlichen Europa näherzubringen sind nicht zwingend Reisen in jene Länder notwendig. Sinnlich erfahren lassen sich diese auch an spezifischen Orten in Deutschland: z.B. im Haus Schlesien in Königswinter am Rhein, wo man in Zimmern mit den Namen Breslau, Oppeln oder der Grafschaft Glatz übernachten und in der „Rübezahlstube“ Liegnitzer Bomben oder schlesisches Himmelreich probieren kann. Der Heiligenhof in Bad Kissingen ist in ähnlicher Weise ein Ort, der von vergangenen Zeiten in Böhmen und Mähren erzählt, die Erinnerung an diese ehemals von Deutschen besiedelten Regionen (re)präsentiert, aufrechterhält und weiterträgt. Das Landhaus im Ortsteil Garitz von Bad Kissingen wurde 1952 als „Sudetendeutsche Heimstätte europäischer Jugend“ (Richter/Böse 2011, 58; vgl. auch vgl. Weger 2005, 299) gegründet, war zunächst in erster Linie ausgerichtet auf die soziale Unterstützung und „heimatbezogene“ Bildung der vertriebenen Kinder- und Jugendlichen, wurde als Ausbildungsstätte für Jugendgruppenleiter genutzt und schließlich zur politischen Bildungsstätte, die auch Seminare für Erwachsene umfasste. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde der Heiligenhof zur Begegnungsstätte west- und ostdeutscher Vertriebener sowie von in der Tschechischen Republik verbliebener deutschsprachiger Minderheiten, heute definiert sich das Haus als „Stätte der Begegnung und der historisch-politischen und kulturellen Bildung zwischen Deutschen und den östlichen Nachbarn“ (Binder 2011, 61). Ähnlich wie Haus Schlesien bietet der Heiligenhof als Jugendherberge auch Einzelreisenden und Schulklassen Tagungs- und Übernachtungsmöglichkeiten – nur heißen die Zimmer dort eben Brünn, Gablonz oder Pilsen und neben einer attraktiven Mischung aus fränkisch-böhmischer Küche lockt die Besucher abends eine „Südmährische Weinstube“. Die Geschichte und das Selbstverständnis des Hauses Schlesien weisen also in vielerlei Hinsicht Parallelen zum Heiligenhof auf, aber auch große Unterschiede, etwa was das Gründungsjahr oder die musealen Vermittlungsangebote betrifft.

Während Praktiken und Medien der Erinnerung im Kontext von Flucht und Vertreibung in den vergangenen Jahren durch unterschiedliche Disziplinen in den Blick geraten sind, steht eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den von Vertriebenengruppen ins Leben gerufenen Bildungs- und Begegnungsstätten jedoch weitestgehend aus. Die frappierenden Parallelen und zu untersuchenden Spezifika der beiden Häuser boten sich daher geradezu dazu an, in den Mittelpunkt eines Antrags im Rahmen des BKM-Förderprogramms „Vielstimmige Erinnerung – gemeinsames Erbe – europäische Zukunft: Kultur und Geschichte der Deutschen und ihrer Nachbarn im östlichen Europa“ gestellt zu werden. Unter dem Titel „Sinnliche Zugänge zu symbolischen Orten Vertriebener in Deutschland. Von Erinnerungs- zu transnationalen Begegnungsräumen?“ konnte das Projekt überzeugen und weitere Förderung durch den Schroubek-Fonds östliches Europa einwerben. Unter der Leitung von Prof. Dr. Sarah Scholl-Schneider und Dr. Johanne Lefeldt beinhaltet es mehrmonatige Recherchen und Datenerhebungen, die u.a. Zeitzeugeninterviews umfassen, und mündet in einer trinationalen Studienwoche, in der Studierende aus Deutschland, Polen und Tschechien vom 4.–11. Januar 2020 gemeinsam die beiden Häuser durch eigene empirische Erhebungen vor Ort forschend erkunden werden.

Ziel ist es, die wissenschaftlich bisher kaum behandelten Bildungsstätten in ihrer Bedeutung für ihre Nutzer, im Wandel der Zeit und mit Blick auf europäische Zukunftsperspektiven zu beleuchten. Zum einen soll so die Auseinandersetzung mit der Kultur und Geschichte dieser Menschen und Regionen angeregt werden, zum anderen erlernen die Studierenden methodische Kenntnisse durch ihre praktische Anwendung, die zur Erforschung dieser Orte und der damit verbundenen Themenfelder notwendig sind. Dazu gehören sinnliche ethnografische Zugänge wie die teilnehmende Beobachtung im schlesischen Restaurant „Rübezahlstube“ ebenso wie eine systematische historische Quellenanalyse etwa von Gästebüchern und nicht zuletzt qualitative Befragungen der Nutzerinnen und Nutzer sowie der dort beschäftigten Experten. Flankiert werden die eigenen empirischen Forschungen der Studierenden von Vorträgen und Methodenworkshops, als Referentinnen und Referenten sind Personen wie PD Dr. Tobias Weger oder Dr. Elisabeth Fendl eingebunden. Abgerundet wird die Studienwoche durch eine öffentliche Podiumsdiskussion am 10. Januar 2020 zur Geschichte und Zukunft der Häuser unter Beteiligung unter anderem von Dr. Günter Reichert, Prof. Dr. Michael Pietsch, Gustav Binder und Nicola Remig.

Binder, Gustav (2011). Von der Heimatkunde zur Europakunde – Das Bildungskonzept des Heiligenhofs im Wandel der Zeit. In: Der Heiligenhof. Alles Leben ist Begegnung. Bildungs- und Begegnungsstätte in Bad Kissingen. 60 Jahre (61–70). Bad Kissingen: Stiftung Sudetendeutsches Sozial- und Bildungswerk.

Richter, Walli; Böse, Oskar (2011). Zur frühen Geschichte des Heiligenhofs Sudetendeutsche Heimstätte europäischer Jugend. Ein Zeitzeugenbericht von Walli Richter mit Ergänzungen von Oskar Böse. In: Der Heiligenhof. Alles Leben ist Begegnung. Bildungs- und Begegnungsstätte in Bad Kissingen. 60 Jahre (47–60). Bad Kissingen: Stiftung Sudetendeutsches Sozial- und Bildungswerk.

Weger, Tobias (2005). Volkstumskampf" ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen, 1945–1955. Frankfurt a.M.: Peter Lang.